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Zu den Arbeiten von Jürgen Krause

 

Was für ein wunderbares Glücksgefühl: In ein ofenfrisches Brot zu beißen, in ein frisch gemachtes Bett zu schlüpfen, eine über Nacht verschneite Landschaft zu betreten oder ein neues Jahr zu beginnen.

Im unbefleckten Anfang liegt etwas Überwältigendes und die Summe aller Möglichkeiten.

Dennoch ist unsere Kultur weitgehend eine Kultur des Fertiggemachten, Abgeschlossenen und Vollendeten.

Jürgen Krause verweigert sich diesem Dogma grundsätzlich und vollkommen. In seinen Arbeiten zelebriert er die Poesie des Beginnens und schafft einen Assoziationsraum, der uns zeigt, wo Kunst anfängt und nicht wo sie aufhört und zu Ende gedacht ist.

Dennoch macht er es sich nicht leicht. Sein Innehalten am Anfangen ist harte Arbeit im Akkord.

Monatelang grundiert er mit großer Sorgfalt ein Blatt Papier, bis sich aus der Fläche ein magischer Körper entwickelt, der als Konzentrat die Möglichkeiten unzähliger Bilder enthält. Der Schnee ist noch nicht betreten und liegt in seiner sprachlosen Unschuld vor dem Betrachter.

Bleistifte werden über Monate hin abgeschält, Klingen werden Tag für Tag neu geschliffen, ohne dass sie zum Einsatz kommen. Sie behalten ihr volles Potential und werden somit zu Aggregaten ihrer Möglichkeiten.

Über ein Jahr lang schneidet Krause mit dem Skalpell kleine Kreise aus genormten A 4 Blättern und schafft damit zweierlei: Die gelochten Blätter werden in einer Vitrine skulptural aufgebahrt und durch jede Lochung sieht man eine neue Welt.

Das entstandene weiße Konfetti, es passt in eine hohle Hand, wird in einem glücklichen Moment, am Mainzer Rosenmontag, in die Luft geworfen. Dort schneit es für ein paar Sekunden und mischt sich mit allem Bunten, was auf der Straße liegt.

 

Heiner Blum

 

Scheinbar mühelos ist ein Raster von Bleistiftlinien in regelmäßigen Abständen auf DIN-A4-Blätter gezeichnet. Was auf den ersten Blick wie die gängige Quadratur eines Rechenblattes wirkt, offenbart bei Nahsicht feinste Abweichungen: Die Linien „pulsieren“ im Verlauf, an den Blatträndern gibt es variierende Ausschnitte der Rechtecke. Erst jetzt verliert der voreingenommene Vergleich mit der wohlbekannten Normvorlage an Bedeutung und man erahnt die hohe Konzentration von Jürgen Krause bei der Fertigung der Handzeichnungen. Ein Stehpult anstelle eines Schreibtischs gibt ihm die größtmögliche Beweglichkeit des Körpers beim Durchziehen der Linien.

Den Grundierungen wohnt das gleiche Spannungsverhältnis aus scheinbarer Beiläufigkeit und aufwendigem Tun inne. Der unermessliche Zeitraum ihrer Entstehung, der sich durch eine Vielzahl immer weiter verdünnter Leimgrundierungen zeitlich dokumentiert und im wörtlichen Sinn Gewicht verleiht, ist in den blockhaften Objekten als Sedimentschichten erkennbar. Die unregelmäßigen Grate verunklären zugleich die formale Präzision der flachen, weißen Raumkörper und verleihen ihnen eine federleichte Anmutung.

Im Fokus von Krauses Werk stehen Praktiken, die gemeinhin den als schöpferisch verstandenenen Arbeitsschritten vorausgehen. Den Tätigkeiten selbst und ihrer täglichen Abfolge liegt dabei eine innere Logik des „Nicht-Benutzens“ zugrunde: Die Handzeichnungen lassen durch das engmaschige Raster der Linien einen weiteren Gebrauch der Blätter offen, ebenso wie die blockhaften Leimgründe eine klassische Verwendung als Grundlagen von Silberstiftzeichnungen ad absurdum führen. Ist ein Werk nach Tagen, Wochen oder Monaten abgeschlossen, beginnen die „Exerzitien“ von vorne. In dieser Absage an Zielgerichtetheit künstlerischer Praktiken liegt ein Schlüssel zum Verständnis seiner Werke. Die vermeintliche Vorstufe des Schaffens genügt sich selbst; in ihr perfektioniert Jürgen Krause die Mühelosigkeit als Meisterschaft und rekurriert so auf die elementaren Grundlagen der Zeichenkunst. Der vorausgegangenen intellektuellen Gedankenspiele, der Theorie eines geistig-schöpferischen Konzepts - jenes vom Bild im Kopf des Künstlers - wird der Betrachter kaum gewahr. Lediglich in den feinsten Unregelmäßigkeiten scheint die kraftvoll-fließende Arbeit des Künstlers gleich einer Handschrift auf.

 

Franziska Scheuer im Ausstellungskatalog „Disegno - Zeichenkunst für das 21. Jahrhundert“, Kupferstichkabinett Dresden, 2015

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