Uwe Greiner

<   Zwei verhandeln, ob und wie sie einander nützen können   >

DIE KRITIK VERKÖRPERN - EINIGE THESEN

 

„Es geht nicht nur darum zu wissen, welche Prinzipien wir wählen, sondern auch welche Kräfte, welche Menschen sie anwenden.“

Merleau Ponty

 

1. Das Problem der Kritik war traditionell ein Problem des Bewusstseins. Heute ist die Kritik ein Problem des Körpers: Wie lässt sich die Kritik verkörpern? Wie kann eine Verkörperung kritischen Denkens zuwege gebracht werden? Hatte die Kritik traditionell die Finsternis bekämpft, so muss sie heute gegen die Ohnmacht bzw. das Unvermögen antreten. Die globale Welt ist zur Gänze aufgeklärt. Unser Bewusstsein ist geblendet. Es gibt nichts, was wir nicht sehen: Das Elend, die Lügen, die Ausbeutung, die Folter, der Ausschluss usw. zeigen sich in aller Klarheit. Und doch vermögen wir wenig – in Bezug auf uns und die Welt. Wir können alles aussprechen und haben dennoch nichts Relevantes hinzuzufügen. Die Kritik zu verkörpern bedeutet demnach nicht, das rechte Wort zu finden; auch nicht, sich im Gehege des richtigen Bewusstseins zu gefallen oder den Institutionen die billigste Lösung zu verkaufen. Die Kritik zu verkörpern heißt, heute das Problem anzugehen, das eigene Leben so zu unterwandern, dass die Welt nicht dieselbe sein kann.

 

2. Die Kritik, die gegen die Finsternis ankämpfte, hatte eine HeldIn: die KünstlerIn-Intellektuelle. Ihr Wort und ihre Schöpfungen – Analysen, Metaerzählungen, Anklage, Provokation etc. – brachten das Licht. Sie waren die Werkzeuge einer Intervention gegenüber und hinsichtlich der Welt. Die KünstlerIn-Intellektuelle verrichtete ihre Arbeit in ihrem Atelier bzw. an ihrem Schreibtisch. Dies war ihr Balkon, vom dem aus ihre Worte rein bleiben oder sich an die Macht verkaufen, sich dem Kampf widmen oder der Ordnung ihre Sicherheiten zurückerstatten konnten. Sie konnten ins Schwarze treffen oder das Ziel verfehlen, treu sein oder Verrat üben. Sie konnten aber auch den Balkon verlassen und sich der Menge anschließen. Die Kritik, die gegen die Ohnmacht antritt, hat keine HeldIn oder sie hat viele. Ihre Äußerung ist anonym und hat kein Gesicht. Die Stätte ihrer Äußerung ist umherschweifend, zeitweilig aussetzend, sichtbar und unsichtbar zugleich. Wer ist heute das Subjekt der Äußerung kritischen Denkens? Wo finden wir es? Wir können es nicht benennen, weil es sich um ein anonymes und ambivalentes Subjekt handelt. Als Kompositum aus Theorie und Praxis, Wort und Handlung ist es schillernd und schäbig, isoliert und kollektiv, stark und schwach zugleich. Seine Wahrheit klärt die Welt nicht auf, sondern widerlegt sie. Wenn die Welt sagt: „Dies ist alles, was ist“, dann gibt es ein Wir, das erwidert: „Das kann nicht alles sein!“

 

3. Die Ohnmacht ist nicht Konsequenz einer historischen Schwäche der sozialen Bewegungen oder irgendeines anderen politischen Subjekts, das wir uns vorstellen könnten. Die Schwäche selbst folgt aus einer Reformulierung des sozialen Bandes, in der die Logik der Verbindung jene der Zugehörigkeit ersetzt hat. Das bedeutet, dass sich Fragen der Inklusion und Exklusion eines/r jeden Einzelnen von uns nicht entlang von Zugehörigkeitsverhältnissen zu einer erweiterten Gruppe („Volk“, Gemeinschaft, Klasse) entscheiden; ausschlaggebend ist vielmehr die Fähigkeit zu ständig gespeister und erneuerter Verbindung, die jede/r Einzelne durch ihre Aktivität als Mitwirkende am Ganzen aufrechtzuerhalten vermag. In der Netzwerkgesellschaft ist jede/r allein in ihrer/seiner Bindung an die Welt. Alle liefern sich ihre je eigene Schlacht, um die Verbindung mit der Welt nicht zu verlieren, um nicht außen vor zu bleiben und aus ihrer Biographie keine weitere Exklusionserzählung zu machen. Das Leben damit zuzubringen, nach Arbeit zu suchen, sowie es im Versuch, Grenzen zu überqueren, aufs Spiel zu setzen: das sind die beiden paradigmatischen Bewegungen, die Biographien der Prekären und MigrantInnen, unsere Biographien. Die Logik der Zugehörigkeit kannte ihre besonderen Herrschaftsformen. Die Logik der Bindung ist einfach und binär: Entweder du stellst eine Verbindung her oder du bist tot. Mit dieser Reformulierung des sozialen Bandes – Ergebnis der historischen Niederlage der ArbeiterInnenbewegung – wird jedes Leben in Bezug auf die Welt in Bewegung versetzt. Niemand ist sicher, wo sie/er steht; die persönliche und nicht übertragbare Bindung lässt sich nicht von der Bedrohung ihrer Auflösung entkoppeln. Folglich verwandelt uns dieser neue Gesellschaftsvertrag in ProduzentInnen und ReproduzentInnen der Wirklichkeit, in Knotenpunkte, die das Netzwerk stärken: Einseitig mit jeder/m von uns begründet, verpflichtet dieser neue Gesellschaftsvertrag selbstverpflichtend, kontrolliert selbstkontrollierend und unterdrückt selbstunterdrückend.

 

4. Wenn die Ohnmacht nicht das Resultat einer historischen Schwäche der sozialen Bewegungen ist, dann folgt sie auch nicht aus der persönlichen Unfähigkeit des Ich. „Ich mache nichts / Ich kann nichts tun“: nichts für die Gesellschaft, nichts gegen die Zerstörung des Planeten, nichts, um den Krieg zu verhindern … Nichts. Dies ist die Erklärung eines in Selbstbeschau versunkenen Subjekts, dem nur Schuld und Zynismus offenstehen. Es ist die Stimme eines in seiner Verbindung mit dem Netzwerk isolierten Ich. Einsam in einer einsamen Welt. Einsam mit allen anderen. In seiner prekären und entpolitisierten Verbindung ist dieses Ich die Beute von Moral, Meinung und Psychologie. Es bewegt sich in der Sphäre von Werten, welche die Welt überfliegen und anhand deren es urteilt und beurteilt wird; in der Sphäre des Kaufs/Verkaufs von Meinungen, die ihm eine Stellung in der Gesellschaft sowie den eingeschränkten Bereich sichern, in dem sich sein Wohl und Unwohl zutragen.

 

5. Der Kampf gegen Ohnmacht und die Verkörperung der Kritik vollzieht sich in erster Linie im Angriff auf jenes Ich: ein Angriff auf die Werte, mit denen wir die Welt überfliegen, auf die Meinungen, mit denen wir uns vor der Welt schützen, und auf unser besonderes und prekäres Wohlbefinden. Wenn die Kritik als jener theoretisch-praktische Diskurs definiert werden kann, der emanzipatorische Effekte zeitigt, dann muss unsere Befreiung vom Ich heute das Hauptziel der Kritik sein. Das Ich ist nicht unsere Singularität. Das Ich ist jenes Dispositiv, das uns in der Netzwerkgesellschaft sowohl isoliert wie verbindet. Alle können sich mit ihren Werten, Meinungen und Befindlichkeiten gegenüber der Welt ruhig verhalten oder angesichts der Welt in ihrer Ohnmacht verharren. Ob zynisch oder schuldig, das Ich weiß immer, wo es sich verorten muss.

 

6. Im Gegensatz zur modernen Tradition bedeutet die Entwicklung eines kritischen Denkens also nicht, dem Subjekt zu einem höheren Grad an Reife und Unabhängigkeit zu verhelfen; es bedeutet, das Ich von jenem Ort loszureißen, der es immer in seiner Verortung der Welt gegenüber verharren lässt. Das moderne Emanzipationsideal war mit der Vorstellung verbunden, dass Befreiung im Grunde heißt, sich von der Welt der Notwendigkeit zu „distanzieren“ und die Bindung bis zum Punkt einer gottgleichen, individuellen oder kollektiven Selbstgenügsamkeit zu lösen. Dies wäre der Weg vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit in seinen vielfältigen Formen. In unserer Netzwerkgesellschaft muss sich ein kritisches und emanzipatorisches Denken vielleicht eine andere Frage stellen, nämlich ob wir fähig sind, die Freiheit in der Verflechtung zu erobern. Befreiung hat heute mit der Fähigkeit zur Erforschung und Stärkung der Bindung zu tun: die Bindungen an einem Welt-Planeten, der auf ein Konsumobjekt, eine Oberfläche von Verlagerungen und ein Depot von Rückständen reduziert wurde, sowie die Bindungen an diese anderen, die, immer dazu verdammt, anders zu sein, der Möglichkeit beraubt wurden, „Wir“ zu sagen. Die Ohnmacht zu bekämpfen und die Kritik zu verkörpern bedeutet alsdann, das Wir und die Welt, die zwischen uns besteht, zu erfahren. Das Problem der Kritik ist heute folglich kein Problem des Bewusstseins, sondern ein Problem des Körpers: Die Kritik richtet sich nicht an ein Bewusstsein der Welt gegenüber, sondern an einen Körper, der in und mit der Welt ist. Dies macht nicht nur Schluss mit der Rolle der Intellektuellen und ihrem Balkon, wovon wir bereits sprachen, sondern auch mit den Mechanismen der Legitimation ihrer Worte und ihrer Äußerungskanäle.

 

7. Die größte Herausforderung der Kritik besteht heute im Kampf gegen die Privatisierung der Existenz. In der globalen Welt wurden nicht nur die Güter und die Erde, sondern auch die Existenz selbst privatisiert. Die Erfahrung, die wir heute mit der Welt machen, verweist auf ein privates Referenzfeld: ob individuell oder in der Gruppe, sie ist immer selbstbezüglich. Diese Privatisierung der Existenz hat zwei Konsequenzen: Die erste besteht in der Entpolitisierung der sozialen Frage. Das bedeutet, dass wir FeindInnen haben, aber nicht wissen, wo unsere FreundInnen sich verorten. Wir können zwar die Aggressionsherde in unserem eigenen Leben aufspüren, nicht aber die Demarkationslinie Freund/Feind. Wir können über Spekulation, Prekarität, Mobbing, Grenzen usw. sprechen. Wie aber jenes Wir benennen, das diese Wirklichkeiten erleidet und bekämpft? Auf diese Weise wird auch der Feind privatisiert. Jede/r hat in Bezug auf ihr/sein besonderes Problem einen eigenen Feind. Die Kampffronten lassen sich kaum mit anderen teilen. Sie dringen in jede Zelle unseres täglichen Elends ein, das genau darum elend ist, weil jede/r mit dem eigenen Elend als Individuum oder mit dem eigenen kleinen Ghetto allein ist. Aber aus der Privatisierung der Existenz folgt auch die Radikalisierung der sozialen Frage, die unmittelbar in unserer eigenen und nicht in einer anderen Welterfahrung wurzelt. Die Frage nach dem Wir zu stellen verlangt, vom einzigen auszugehen, was wir haben – von unserer eigenen Erfahrung. Die Fragmentierung des Sinns hat diese paradoxe Tugend: Sie verpflichtet uns dazu, von uns selbst auszugehen. Deswegen ist es so wichtig, die dritte Person aufzugeben, welche das traditionelle kritische Denken dermaßen dominiert hat, und unser eigenes Feld von möglichen Erfahrungen zu erforschen. Die Frage nach dem Gemeinschaftlichen verlangt heute den Mut, in die eigene Welterfahrung einzutauchen, auch wenn diese kahl und ohne Versprechen ist. Darauf beruht die Verkörperung der Kritik. (…)

Marina Garcés

 

Text: „Die Kritik verkörpern. Einige Thesen. Einige Beispiele“ von Marina Garcés, ins deutsche übersetzt von Birgit Mennel. Vollständig veröffentlicht im Juni 2006 beim Europäischen Institut für Progressive Kulturpolitik. Quelle: http://eipcp.net/transversal/0806/garces/de. Copyright: Marina Garcés, Übersetzung: Birgit Mennel.

Die Punkte 8 – 11 wurden aus redaktionellen Gründen weggelassen.

 

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